Calenberger Autorenkreis

   







Karla Kühn kam nach der Wende Anfang der 90ger-Jahre zusammen mit ihrem Mann Joachim aus Leipzig in Sachsen nach Niedersachsen, erst Hannover, später nach Linderte / Ronnenberg, wo sie auch heute lebt. Mit dem Schreiben hat sie erst vor einigen Jahren angefangen. Besonders widmet sie sich dabei der autobiografisch gefärbten Kurzgeschichte. Für unseren Calenberger Autorenkreis hat sie in den vergangenen Jahren Vorträge zu Mascha Kaléko und zu Erich Kästner erarbeitet. Ihr Mann Joachim ist seit vielen Jahren der "Techniker“ im Autorenkreis.
Lesen Sie hier ihre beiden neuesten Texte aus dem Jahr 2020, in denen es in beiden irgendwie um das "wunderbare" Gefühl beim Fliegen geht...

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Jung sein, das Wochenende vor sich sehen, die Liebste im Kopf haben und letztendlich und unabwendbar noch arbeiten müssen, genau in diesem Sinn sollte diese Erzählung gelesen werden:

Endlich Wochenende

Ich fuhr wieder einmal an einem Freitag durch eine Kleinstadt, die direkt an der Weser lag. An einer Villa vorbei, die mir unvergesslich bleiben wird. Vor vielen Jahren, ich war damals Anfang zwanzig, stand ich vor diesem Haus, um den Flügel des mir noch unbekannten Kunden für ein Hauskonzert zu stimmen. Nach der Arbeit wollte ich an diesem Freitagnachmittag mit Lorchen, mit der ich seit einigen Monaten meine 2-Zimmerwohnung teilte, ins Schwimmbad gehen oder eine Radpartie ins Grüne unternehmen. Aber erst musste ich bei diesem Kunden meine Arbeit erledigen. Der adlige Herr öffnete mir die Tür. Großgewachsen stand er vor mir, hätte mir auf den Kopf spucken können, ich schätzte ihn auf Mitte vierzig. Er begrüßte mich überschwänglich freundlich. In seiner rechten Hand hielt er eine fast ausgetrunkene Bierflasche. Sein Äußeres erschien mir ungepflegt, fettig das dünne Haar, unangenehm auch seine nach Schweiß muffelnde Ausdünstung. Der Blick, mit dem er mich musterte, war nicht mehr eindeutig klar: „Junger Mann, ich habe sie schon erwartet. Ich gebe morgen ein Hauskonzert. Die Pianistin müsste Ihnen bekannt sein. Möchten sie etwas trinken?“ Ich nickte verlegen. Er führte mich mit leicht schwankendem Schritt in das Wohnzimmer. Bücher und Zeitschriften waren auf dem Boden und auf den Sitzgelegenheiten wahllos verstreut, Staub lag auf den Möbeln und mitten in diesem Chaos stand der schwarzglänzende Konzertflügel von Steinway & Sons. Lässig stellte er eine kühle Flasche Bier auf den zurückgeklappten Deckel des Instrumentes. Mir sträubten sich die Nackenhaare. Auf ein so hochwertiges Instrument stellte man keine Flaschen oder Gläser oder andere Gegenstände. Ungehalten nahm ich die Flasche vom Flügel und dachte dabei an das Lied von Paul Kuhn: „Gehm`se dem Mann am Klavier noch `n Bier, noch `n Bier.“

Die Stimmung und Pflege des hochwertigen Instrumentes hatte ich nach knapp zwei Stunden beendet. Wie immer spielte ich nach Abschluss meiner Arbeit eine kleine Melodie darauf, um mich zu vergewissern, dass alle Töne harmonisch überein stimmten. Ich entschied mich für Chopins „Minutenwalzer“. Fertig, Feierabend, und nun nach Hause und Lorchen abholen. Die mir entgegnende Stille im Haus war bedrückend. Ich rief: „Herr Graf, ich habe meine Arbeit beendet!“ Keine Reaktion, keine Antwort erfolgte auf meine Worte. Was nun? Ich setzte mich auf den braunen Ledersessel, welcher an einem runden mit Zeitschriften und Lektüren belegten Tischchen stand. Um die Wartezeit zu überbrücken, blätterte ich flüchtig in den herumliegenden Zeitschriften, zum Lesen fehlte mir jegliche Konzentration. Ich wollte meinen Lohn empfangen, und die Villa verlassen. „Hallo, Herr Graf, ich möchte jetzt ihr Haus verlassen!“ Laut rief ich diese Worte in den Flur. Keine Antwort, unheimliche Stille im gesamten Haus. Er wird doch hoffentlich in seinem Zustand nicht in die Weser gestürzt sein, oder kauft Nachschub für seine durstige Kehle! Ich stand vor der in das obere Stockwerk führenden Treppe. Ausgeleerte Flaschen, die mit alkoholischen Getränken gefüllt gewesen sein mochten, standen auf den Stufen nach oben aufgereiht.

Das Warten bedeutete für mich eine sinnlos verlorene Zeit. Erneut erforschte ich die Villa meines noblen Kunden. Die schwere Eichentür nach draußen war verschlossen, einen Schlüssel konnte ich nirgends entdecken. Schweiß brach mir aus den Poren. Ich musste hier raus, das war der einzige Gedanke, der mich beherrschte. Der adlige Herr hatte mich offensichtlich vergessen, einfach alle Türen zugesperrt und war außer Hauses gegangen. Vor mir lag das Wochenende, Freitagnachmittag, und da gab es meine Hannelore, die auf mich wartete. Ich stand vor der Terrassentür, von dort könnte ich  den Weg nach draußen finden. Nachdem ich den Hebel der Tür erfolglos heruntergedrückt hatte, ertönte die Alarmanlage. Wie versteinert stand ich im Raum. Was nun? So überraschend wie der Alarm erklungen war, verstummte er schon wieder. Kein Graf oder die Polizei erschienen und befreiten mich. Mir wurde übel, der Puls raste und mein Herz pochte wild in meiner Brust. „Graf, was sollen diese Spielchen? Ich habe dafür kein Verständnis. Kommen sie aus ihrem Versteck!“ Wütend und zornig schrie ich diese Worte ins Nichts. Was gab es denn noch für Möglichkeiten dieses Haus zu verlassen?

Wieder betrat ich die Küche, mir war nicht bewusst, was ich da überhaupt wollte. Plötzlich sah ich sie, die in der Tapete eingelassene schmale Tür, deren Umrisse sich nur schwach in der Wand abzeichneten. Ich zog sie auf. Ein widerlicher Geruch, geschwängert von misslichen Ausdünstungen, schlug mir entgegen. Der Graf lag ausgestreckt schnarchend auf einer schmuddeligen Chaiselongue und röchelte sich in die Ernüchterung hinüber. „Graf, bitte, erheben Sie sich, überreichen mir meinen Verdienst und dann bin ich weg.“ Er erwachte, mit trüben glasigen Augen blickte er verschlafen zu mir auf: „Was wollen Sie denn hier, ich erinnere mich nicht, Sie gerufen zu haben.“ Mit erzwungen ruhiger Stimme erklärte ich ihm, warum ich mich in seiner Villa befand. Ich sah sofort, dass er trotz meiner vorwurfsvoll an ihn gerichteten Worte und trotz seines noch nicht gänzlich nüchternen Zustandes mich verstanden hatte. Verlegen lächelnd erhob er sich, strich mit den Fingern durch sein strähniges Haar und sprach mit leiser Stimme: „Gut, gut, hören sie doch auf, ich habe verstanden. Selbstverständlich bekommen Sie ihr Honorar und bitte, dann verlassen Sie mein Haus.“ Er zog aus seiner Hosentasche mehrere knittrige Geldscheine hervor und drückte sie mir mit niedergeschlagenen Augen in die Hand. Ich staunte nicht schlecht, als ich vor der Tür stehend die Scheine nachzählte, das Trinkgeld konnte sich sehen lassen. Diesem Herrn bin ich niemals wieder begegnet.


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Gibt es eine Gedankenübertragung von Mensch zu Mensch? Doch, die gibt es, der eine nimmt sie wahr, der andere nicht           

Die Gedanken tragen uns

Es war an einem klaren und sonnigen Wintertag, als sie sich entschloss, durch den leicht verharschten Schnee ihre Wanderung über den nahegelegenen Berg allein zu unternehmen. Die Luft war herrlich kühl, nicht zu kalt, fünf Grad unter null. Die blasse Wintersonne schickte ihre Strahlen auf den vor ihr liegenden Weg. Immer wieder war es ihr ein Bedürfnis, diese Wanderungen zu unternehmen. Sie brauchte die körperlichen Bewegungen in der Natur. Sie gaben ihr Kraft, Lebensmut und erfrischten Körper und Geist. Im kleinen Park beim Spielplatz zwitscherte ein kleines Spatzenvolk, sie blieb stehen und lauschte. „Was können diese kleinen Kerle nur für einen Spektakel verbreiten und das im tiefsten Winter?“, fragte sie sich. Ein Traktor tuckerte an ihr vorüber. Am Steuer saß der junge Sohn eines Bauern aus dem Ort. Im Schlepptau zog er auf Schlitten sitzende Kinder den Berg hinauf. Sie musste herzlich lachen. Sie fand diese Idee des Transportes originell. Oben am Berg angekommen würde sich die kleine Gruppe vom Traktor lösen, und mit Jauchzen und Getöse den Berg hinab ins Tal rodeln. Das hatte sie schon mehrere Male bei ihren Wanderungen beobachten können. So hatte sie dies in ihren Kinderjahren und in ihrer Jugendzeit nicht erlebt. Ihren Schlitten hatte sie immer wieder mit eigener Kraft nach oben ziehen müssen. Die Anhöhen waren nur mit schräg gestellten Schuhen zu bezwingen gewesen. Was war das damals für eine Mühe gewesen! Wie hatten sie beim Anstieg geschwitzt und geprustet. Heute wurden die Sprösslinge, ohne eigene Anstrengung aufwenden zu müssen, auf die Anhöhe gezogen. Mit zügigen Schritten stieg sie den Weg, der zum Gipfel des Berges führte, hinauf. Sie genoss die einzigartige Winterlandschaft. Es gab so viele Eindrücke, man musste nur die Augen und Sinne öffnen. Ein Rudel von geschätzt sieben Feldrehen kam vom Berg herunter gelaufen. Scheu lauschend blieben sie plötzlich auf dem Feld stehen. Die Nüstern witterten nach rechts und links, dann liefen sie weiter, überquerten den Weg und flohen in das Dunkel des Waldes. 

Auf ihren Wanderungen hatte sie oft ihren MP3-Player und die Kopfhörer bei sich. Wenn sie glaubte sich ablenken zu wollen, benutzte sie dieses Gerät. Sie genoss die Klänge der großen Komponisten. Dvorak, Bach, Tschaikowsky, Verdis Nabucco, den Bolero von Ravel, herrlich! Trompeten erklangen, sie lauschte auf die Melodien der Panflöte. Auch moderne Musik hatte sie auf ihrem kleinen Gerät abgespeichert. Ein Rock`n` Roll von Elvis erklang aus ihrem Mp3-Player. Ein Kuschel-Rock war es, diese Musik von ihm mochte sie besonders. Gedanklich befand sie sich plötzlich in die Vergangenheit, in den noch nicht vergessenen Jahren. Sie erschienen, wie aus der Versenkung aufgetaucht. Genau bei diesem Song, „Are You Lonesome Tonight“, hatte sie den vier oder fünf Jahre älteren Jungen Gerd beim Tanz im Dorfgasthof kennengelernt und mit ihm getanzt und gerockt. Gerd war ihre erste Jugendliebe. Sie hatte den gestärkten Petticoat unter dem bunten Sommerrock getragen und leichte flache Schuhe an den Füßen. Immer wieder hatte er sie zum Tanz geholt und auf dem stumpfen Parkett im Takt der Musik von ihm weg gewirbelt und dann wieder hatte er sie ganz fest an sich gedrückt in seinen Armen. Frei und unbeschwert hatte sie sich gefühlt. Er hatte sie nach Hause gebracht. Vor der Haustür nahm er sie in die Arme. Nur Kuscheln und Küssen, mehr hatte es nicht sein dürfen.

Noch an vielen Wochenenden hatten sie beide im Dorfgemeinschaftshaus getanzt. Sie mochte ihn sehr und ihr Herz klopfte ganz wild in der Brust, wenn er den Tanzsaal betrat. Und doch hatte sie sich gescheut, den letzten Schritt zu tun, den er, wenn er sie nach Hause gebracht hatte, forderte. Dazu war sie noch nicht bereit gewesen. An einem Samstagabend war er mit einem hübschen Mädchen aus dem Nachbarort ins Lokal gekommen. Seine Blicke waren suchend durch den Saal geirrt, dann erblickte er sie. In seinen Augen glaubte sie eine Frage oder Entschuldigung zu erkennen. Sie, die noch so jung war, konnte es nicht deuten. Sie war so unendlich enttäuscht gewesen, so verzweifelt. Immer wieder hatte sie sich gefragt, warum? Seine ganze Zuwendung hatte nun dem anderen, dem dunkelhaarigen Mädchen gegolten. Natürlich war ihr heute bewusst, dass sie damals einfach noch zu jung war oder zu unreif, um sich dem älteren Liebsten hinzugeben.

Warum dachte sie gerade jetzt an diese Jugendzeit? Allein lief sie an diesem herrlichen Wintertag durch die verschneite Landschaft, war es deshalb. Sie hatte sich erfreut an dem fröhlichen Lachen der Kinder und der klaren reinen Luft des Wintertages. Ihr Handy meldete sich, das trug sie bei ihren Wanderungen immer bei sich. Es war kein Anruf, eine SMS wurde ihr gesendet. Oh, jetzt vermisste er sie wohl doch, ihr lieber Mann, der keine Kraft oder Lust mehr in sich verspürte, mit ihr zu laufen. Aber es war keine Nachricht von ihm. Diese SMS sendete ihr eine alte Freundin aus vergangenen Jugendjahren. Nur ein paare kurze Zeilen waren zu lesen. „Ich grüße dich, meine Liebe und muss dir leider eine traurige Nachricht übermitteln. Gerd, dein Verehrer aus der Dorfkneipe, der Junge, der deine erste große Liebe war, ist nach einem schweren Krebsleiden heute Morgen verstorben. Die Inge, seine Frau hat mich gerade angerufen. Du solltest es erfahren. Liebste Grüße von mir!“

Betroffen blieb die Wanderin stehen. Sie hatte endlich den Weg, der hinab ins Tal führte erreicht. Diese Nachricht konnte sie nicht fassen. Was gab es für unwirkliche unglaubliche Gedankenübertragungen oder was war das gerade? Warum hatte sie heute bei ihrer Wanderung und noch vor wenigen Minuten diese Gedanken an Gerd gehabt? An den Gerd, den sie trotz ihrer wunderbaren Jahre mit ihrem Mann nie wirklich vergessen konnte. Ihr war kalt geworden. Die strahlende Wintersonne war hinter dunklen Schneewolken verschwunden. Hoffentlich schaffe ich den Weg, der noch vor mir liegt, dachte sie. Die Stimme Elvis Presleys erklang in ihrem Ohr: „Are Yuo Lonesome Tonight.“


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Ein ungewöhnlicher Flug

Das Geräusch des neben ihr Schlafenden sollte sie doch aushalten können, sie sollte doch versuchen, die Gedanken auf schöne Dinge zu lenken und irgendwann wieder einzuschlafen, das würde ihr doch möglich sein. Sie muss erkennen, muss hinnehmen, dass es nicht funktioniert. Immer mehr drängen sich die Bilder dieses ungewöhnlichen Fluges in ihr Gedächtnis. Dazu kommt der quälende Husten, der keinen weiteren Schlaf zuließ. Hellwach geworden schaut sie auf die leuchtenden Ziffern der Funkuhr, die auf dem Nachtschrank stehend ihr die verfließende Zeit unbarmherzig ankündigt. Tief atmet sie die aus dem weit geöffneten Fenster einströmende kühle Nachtluft ein. Es ist ein Duft nach frischem Gras und den aufbrechenden Blüten des weiß und lila blühenden Flieders, der in diesem ungewöhnlich heißen fast sommerlichen Frühlingstagen von einem Tag zum anderen rasch erblüht war. >Betäubend ist dieser Geruch<, denkt sie, und sie erlebt wach und unruhig geworden diesen Flug noch einmal, den sie mit ihrem Mann nach dem vergangenen schmuddeligen Winter zur Flucht in die Sonne gebucht hatte.

Die Boeing 737 stand am Flughafen für den Start zum Mittelmeer bereit, d.h. sie war aufgetankt, die Putzkolonne verließ in diesem Moment das Flugzeug, das Cockpit war besetzt, die Stewardessen erwarteten adrett im dunkelblauen engen Kostüm oder Hosenanzug gekleidet, vorteilhaft geschminkt, die Haare zum festen Knoten streng im Nacken hochgesteckt, freundlich grüßend die Passagiere. Diese nahmen, die Flugtickets in den Händen haltend, mit suchenden, forschenden Blicken ihre Plätze rechts und links des Ganges ein. Stau entstand immer wieder, weil der eine oder die andere das Handgepäck mit zu viel Ruhe und Gelassenheit verstaute und nicht an die Wartenden hinter sich dachten.

Es war das erste Mal, dass das Ehepaar getrennt durch den schmalen Gang des Flugzeuges Plätze bekommen hatte. Das war für sie ungewöhnlich, denn bei allen vorangegangenen Flügen suchten ihre Hände beim Starten und Landen die warmen und beruhigenden Hände des neben sich sitzenden Ehemannes. Die Berührung übermittelte ihr Geborgenheit und Sicherheit.

Eine Frauenstimme riss sie aus ihren Gedanken: „Würden Sie meinen Sohn und mich bitte vorbei lassen?“ Die junge dunkelhaarige etwas füllige Dame mit ihrem ca. zwölfjährigen Sohn schob sich an ihr vorbei auf die freien Plätze neben ihr. Der Junge nahm zwischen den beiden Frauen seinen Platz ein. Irene sah liebevoll auf das Kind, er erinnerte sie an ihren Enkelsohn, der  etwa im gleichen Alter sein mochte. „Mein lieber Junge, ich heiße Irene und ich glaube, wir sind heute für vier Stunden oder auch länger Nachbarn, magst du mir deinen Namen sagen?“ Erstaunt blickten Irene zwei tiefbraune Augen an. Der Junge schwieg verlegen oder war er irritiert, er drehte seinen Kopf zur Mutter. Diese beantwortete die gestellte Frage höflich, ein fremder Akzent schwang in der Stimme. „Mein Sohn ist sehr schüchtern, aber sie dürfen ihm Fragen stellen. Er heißt Yusuf Achmed. Wir fliegen zu meiner Mutter, seiner Oma, in meine Heimat.“ Irene nickte der jungen Frau freundlich zu. Erneut fragte sie ihn: „Yusuf Achmed, du hast einen schönen Namen. Bist Du schon oft geflogen?“ Er schaute sie verlegen an, kaum verständlich antwortete er ihr: „Ja, Mama und ich fliegen in den Ferien immer zur Oma“. „Das ist doch toll, mein Junge. Hast du ein Hobby, spielst du Fußball oder Tennis oder vielleicht tanzt du gern?“ Die dunklen Augen des Jungen leuchten auf. Seine Mutter beantwortet erneut die Frage: „Yusuf Achmed ist ein fanatischer und, wenn ich dem Trainer glauben darf, ein fantastischer Fußballspieler.“ Irene musste lächeln, sie hatte fußballbegeisterte Enkelkinder.

Yusuf Achmed sah Irene an, er spürte, dass sie sich für sein Hobby interessierte und nun sprudelten die Worte aus ihm heraus. Er berichtete über seine Fußballmannschaft, die Spiele und Tourniere und die vielen Pokale, welche sie nach einem Sieg nach einem Tournier erhalten hatten. Er strahlte die ältere Frau an. „Irene, werden wir in zwei Jahren den Europameistersieg erkämpfen können. Was glaubst du?“ Die nicht auf diese Frage Vorbereitete überlegte, bevor sie eine Antwort fand: „Yusuf Achmed, egal wer die deutsche Mannschaft trainieren wird, glaub mir, es ist egal wer siegen wird, Hauptsache wir können schöne Spiele sehen. Es ist der Sport, der uns begeistert, und der Kampf um den fair gewonnenen Sieg. Was meinst du, mein Junge?“ Bevor er antworten konnte beugte sie sich lachend zu seinem Ohr und sagte leise: „Aber wir wissen doch, dass der Ball kugelrund  und unberechenbar ist. Ein wenig Glück gehört außerdem dazu und jeder der Männer, die auf dem grünen Feld ihr Können preisgeben, will siegen, natürlich jeder“. Yusuf Achmed strahlte Irene an. „Oh ja Irene, da gebe ich dir Recht.“ Den Dialog zwischen den zwei sich bis vor dreißig Minuten unbekannten Menschen unterbrach die Durchsage aus dem Lautsprecher über ihren Köpfen. Der bevorstehende Start wurde angekündigt.

Die Flugstunden vergingen relativ schnell. Irgendwann schoben die Stewardessen einen schmalen Wagen, beladen mit zollfreier Ware, durch den Gang. Ein zweiter folgte kurz danach mit Getränken. Irene holte den versäumten Nachtschlaf nach, wachte zwischenzeitlich auf, las in ihrem Buch, blickte zur Seite zu ihrem Mann, und bemerkte wohlwollend, auch er schien tief und fest zu schlafen. Yusuf Achmed war mit seinem Handy beschäftigt. Mit was denn sonst? Eine Ansage aus dem Cockpit ließ die Passagiere aufhorchen: „Wir werden in wenigen Minuten in Antalya landen. Aufgrund eines heftiger Windböen, Gewitter und strömenden Regens kann es zu einigen Turbulenzen kommen. Bitte bleiben Sie angeschnallt auf Ihren Plätzen sitzen, die Maschine wird sicher landen.“

Mit diesen angsterregenden, ruckartigen Bewegungen des Flugzeuges hatte keiner gerechnet. Die Passagiere saßen wie gelähmt mit den Haltegurten gesichert auf ihren Sitzen. Trotzdem wurden sie heftig von einer Seite zur anderen geworfen. Plötzlich war ein deutliches Absacken in die Tiefe zu spüren und völlig unerwartet das röhrende Geräusch der Triebwerke, welches darauf schließen ließ, dass der Pilot die Landung nicht gewagt hatte. Die Boeing 737 stieg nach oben, stieg zurück in die Höhe, dem grauen wolkenverhangenen Himmel entgegen. Aus dem Cockpit erklang erneut die Information an die Passagiere, dass eine Landung leider nicht möglich gewesen sei, man bitte um Verständnis. Das musste akzeptiert werden. Wohl alle der Passagiere hatten nur einen Gedanken: Hauptsache wir kommen gesund und unverletzt auf die Erde zurück.

Nach einer großräumigen Schleife über dem Mittelmeer sahen die am Fenster Sitzenden, dass der Flieger wieder über Antalya angelangt war, und erneut setzte der Pilot zur Landung an. Das Fahrgestell verließ deutlich hörbar den Rumpf des Flugzeuges, die Landeklappen kippten nach oben, sie sanken der Landebahn entgegen. Mochte es ein Luftloch gewesen sein, oder eine Unsicherheit, der Flieger sackte ungebremst in die Tiefe. Die Passagiere hielten den Atem an, Kinderweinen war zu hören, dann ein Hilferuf, ein Schrei erklang, der Herr im Sitz vor Irene hatte Luftnot, Angstzustände. Seine neben ihm sitzende Ehefrau rief nach Hilfe. Der Steward rollte einen Sauerstoffapparat, dessen Bedienung er nach einigen Bemühungen endlich beherrschte, neben den Sitz des Hilfebedürftigen. Endlich erhielt der in Not Geratene Sauerstoff, nasse Tücher für Stirn und Brust erleichterten sein Befinden. Der Pilot bat einen am Bord befindlichen Arzt oder eine Ärztin sich zur Verfügung zu stellen. Eine Ärztin kam eilig von den vordersten Plätzen nach hinten zum Patienten. Während dieser stressigen Situation hatte der Pilot die Maschine erneut nach oben gezogen, mit einer Schleife über der Bucht flog er zum dritten Mal zurück zur Landebahn nach Antalya. Erneut spürten die Passagiere die heftigen Turbulenzen beim Sinken des Flugzeuges. Die Ängste der Passagiere waren zu spüren.

Die Hände des Ehepaares lagen fest ineinander verschlungen von links nach rechts über dem Gang vereint. Die rechte Hand Irenes hielt noch immer die kleine braune Hand Yusuf Achmeds und er umklammerte ihre. Leise flüsterte Irene dem Jungen ins Ohr und sie zauberte dabei ein unglaubliches Lächeln auf ihre Lippen: „Yusuf Achmed, bitte hab Vertrauen, der Pilot, nein, nicht er allein, alle, die wir hier im Flieger so eng beieinander bei diesem Flug verbunden sind, wollen die Erde unverletzt betreten. Wir dürfen den Glauben daran nicht verlieren.“ Trösteten ihre Worte das Kind? Ihr ganzes Empfinden galt dem Jungen neben ihr und den vielen Kindern mit ihren Eltern und Großeltern, die sich auf dem Flug in den Osterurlaub befanden, und wie sie mit ihrem Mann Robert an Bord dieser Maschine auf Gedeih und Verderb vereint dem Geschick ausgesetzt waren.

Ein heftiger Ruck presste die Passagiere an das Polster der Rückenlehne ihrer Sitze, das Aufheulen der Turbinen erklang erneut, der Pilot zog fast am Boden angekommen die Boeing 737 und das zum dritten Mal, steil nach oben in den von dunklen Wolken verhangenen Himmel. Oh, mein Gott, was würde noch passieren?

Nach endlos lang erscheinender Zeit, ertönte die Stimme des Piloten aus dem Cockpit: „Meine Damen und Herren, eine Landung in Antalya war auf Grund der Wetterbedingungen nach mehrmaligen erfolglosen Versuchen leider nicht möglich. Wir fliegen den Flughafen in der Bucht von Dalaman an, der liegt 160 km von Antalya entfernt. Ich bedanke mich schon jetzt für ihr Verständnis.“

Der Anflug in Dalaman verlief ohne Komplikationen. Die Wetterlage war fantastisch. Das Flugzeug wurde aufgetankt und der herzkranke Patient in ein Krankenhaus gebracht. Nach vier Stunden Wartezeit startete die Maschine zum Urlaubsziel nach Antalya. Dort glücklich und unversehrt angekommen brachten Yusuf Achmed und seine Mama Irene und Robert zur Bushaltestelle. Als würden sie sich schon viele Jahre kennen, so herzlich war der Abschied voneinander. An diesen ungewöhnlichen Flug wird sich jeder der Passagiere noch lange erinnern.

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